Gewitternacht

Sieh doch, ein herbes Geblitz hat seine Entsprechung ermöglicht, die Sträucher, die trotzig dem Himmel entwuchern. Ich habe ihr Dickicht errungen, um nicht mehr zu straucheln, und meine Zunge gerüstet, den Geschmack ihrer Aussagen zu vereiteln.

Denn so ausgesetzt gerate ich leicht in eines Blitzes Kralle, die duldsamer ist als jene der Einsamkeit. Aber unbeschadet, mit der Sorgfalt jäh gespaltener Augen, erwerbe ich der Eidechse Zucken, bewohne ich das verzweigte Lächeln des Schmerzes, es nutzbar zu machen für mein ununterbrochen zartes Gedicht. Wie du siehst: Es bedarf keiner Axt mehr errettet zu werden.

Diese Erkenntnis verdanke ich jenem Geäder, das, durch Erleuchtung geboren, an ihr zugrunde ging. Die ungezähmte Jagd meines Blutes, die mitsamt ihren Hörnern verschollen ist, wird in deinem Schoß, Geliebte, bloßliegen.

Wir sind die Vertrauten eines Gefüges aus Fahrlässigkeit und seine verschämten Bezwinger.

Dieter Wyss

Das Gedicht „Gewitternacht“ von Dieter Wyss ist dem Surrealismus zuzuordnen. Es erschien im Jahr 1995 in dem Gedichtband „Aus zerstäubten Steinen. Texte deutscher Surrealisten“ im Aachener Rimbaud Verlag, herausgegeben von Bernhard Albers. Von einer Bindung in Strophen kann man in diesem Gedicht nicht sprechen. Auch sind die Absätze nicht in Verse gegliedert und nicht mit Metren, Reimen oder anderen formalen Stilmitteln versehen. In dieser vollkommenen Loslösung von jeglichen formalen Regeln der Lyrik spiegelt sich ein Leitmotiv des Surrealismus wieder. Dabei gilt es, die Darstellungsmittel hinter den Bildinhalten zurückzustellen und so einen unvoreingenommenen Blick auf die Wirklichkeit freizugeben, der nicht von kulturell geformten Konventionen getrübt ist.
Inhaltlich handelt das Gedicht von einem Gewitter mit „herben“ Blitzen. Im übertragenen Sinne lassen sich die Gewitterphänomene mit den kognitiven Fähigkeiten des Menschen gleichsetzen. Mit den Blitzen, die wie „Sträucher […] dem Himmel entwuchern“ sind die Synapsen des Gehirns gemeint. Denn die Kommunikation zwischen den Neuronen geschieht mittels elektrischer Impulse über die zentralen Schaltstellen der Informationsübertragung im Gehirn. Dass das lyrische Ich das Dickicht dieser Sträucher errungen hat, um nicht mehr zu straucheln und seine Zunge zu rüsten, bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es sich Wissen angeeignet hat, was ihm Stabilität und Redegewandtheit verleiht.
Des „Blitzes Kralle“ in die das lyrische Ich leicht gerät, ist sinnbildlich für einen Geistesblitz, der es vor der Einsamkeit bewahrt. Dabei bleibt das lyrische Ich „unbeschadet“ und mit den „jäh gespaltene[n] Augen“ sieht es womöglich in zwei unterschiedliche Realitäten, vielleicht in eine wissenschaftliche und eine poetische, und macht das „verzweigte Lächeln des Schmerzes“ nutzbar für sein „ununterbrochen zartes Gedicht“. Indem das lyrische Ich ein Lächeln im Schmerz findet, weil er ihn lyrisch verarbeiten kann, ist es weitestgehend frei, sodass kein schweres Werkzeug wie eine „Axt“ mehr nötig ist, es zu erretten.
Die ungezähmte Jagd seines Blutes, die in Verbindung mit den Hörnern für triebhafte Fruchtbarkeit steht, wird erst im Schoß seiner Geliebten bloßliegen. Zusammenfassend lässt sich dazu sagen, dass sich das Gedicht sowohl auf die Innenwelt als auch auf die innere Physiologie des Menschen konzentriert, auf die kognitiven Fähigkeiten, die zu Erkenntnissen führen, auf den Schmerz, den manch eine Erkenntnis mit sich bringt, aber auch auf seine Verarbeitung in der Lyrik.
Im dritten Absatz fügen sich Erkenntnis und Erleuchtung, zwei Phänomene, die den Verstand erhellen, und die verschollene Triebhaftigkeit zusammen. Dabei bedingt das Eine das Andere und so spiegelt es sich auch in dem letzten, etwas widersprüchlichen Satz des Gedichts wieder. Die Fahrlässigkeit erregender Geistesblitze wird verschämt bezwungen, wo sie doch eigentlich der Triebhaftigkeit zugesprochen wird.

 

Dieter Wysss (1983) (Quelle: Wikimedia, Urheber: Wyss Tamara, Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“)

Dieter Wyss wurde am 21. Dezember 1923 als Sohn eines Diplomaten und einer Schriftstellerin in Äthiopien geboren, wo sein Vater als deutscher Gesandter arbeitete. Seine Studien der Medizin und Philosophie absolvierte Wyss in Berlin, Rostock und Heidelberg. Später arbeitet er als Assistent für Viktor von Weizsäcker. Dieser hat die psychosomatische Medizin begründet und ist der Onkel des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seine medizinische Karriere gestaltete Wyss durch seine Arbeit als Psychotherapeut, als Ordinarius für Medizinische Psychologie und als Anthropologe. Als Lyriker veröffentlichte er vier Gedichtbände, außerdem das Buch „Lieben als Lernprozeß“ sowie ein Buch über den Surrealismus.

Der Surrealismus in literarischer Form ist längst nicht so bekannt wie die surrealistische Kunst, dabei ist seine Keimzelle genau dort zu finden – in der Literatur. Die Geburtsstätte liegt in Frankreich, genauer gesagt im Paris der 1910er Jahre und es war im Jahr 1917 als der Dichter Guillaume Appolinaire den Begriff Surrealismus für die Bewegung prägte. Er beschrieb sowohl sein eigenes Theaterstück als auch Jean Cocteaus Ballett „Les mamelles de Tirésian“ als surreal. Erst 1921 begann sich der Surrealismus auch in der Kunst zu etablieren, einen relevanten Impuls hierzu gab eine Kunstausstellung von Bildern des Künstlers Max Ernst, die der französische Schriftsteller André Breton organisierte. Breton errichtete auch das „Büro für surrealistische Forschungen“ und verfasste das „Manifest des Surrealismus“ (1924), in dem er die ideale Voraussetzung des Schaffensprozesses formuliert. Das sei das Auge im Urzustand, im Prinzip ein unmittelbarer Blick aus dem Unbewussten, der nicht durch Rationalität verklärt ist. Breton dachte dabei an die Art, wie Kinder die Welt sehen, Naturvölker oder auch Berauschte und Geisteskranke. Der Wahnsinn zum Beispiel ist gemeinhin eine Geisteskrankheit, doch für Surrealisten ist er visionär. Die sichtbare Realität ist nur scheinbar, meint Breton, die objektive Wahrnehmung unzuverlässig. Das Interesse der Surrealisten gilt also einer höheren Wahrheit, die zufällig und willkürlich zum Ausdruck kommt. Diese Vorgehensweise erfordert eine gewisse Spontanität, woraus sich das sogenannte „automatische Schreiben“ bildete. Dem automatischen Schreiben liegt ein Automatismus zugrunde, der das reine Denken abbilden soll. Aufschreiben spontaner Gedanken, ohne sie durch Stilmittel bewusst zu gestalten. Die Verklärung ergibt sich vielmehr aus der Spontanität, aus der Unmittelbarkeit, darum ist der Automatismus vor allem in der Literatur oder der Zeichnung möglich. In der Malerei trägt wohl Salvador Dali den berühmtesten Name unter den Surrealisten. Die Werke der Surrealisten sind gemeinhin Traumwelten, die halluzinatorisch anmuten und mit Realismus nicht viel gemeinsam haben.

Plakat am Haus Rue Fontaine 42 (Quelle: Wikipedia, Urheber: MOSSOT, Creative-Commons-Lizenz, Namensnennung 3.0 nicht-portiert)

Das „Zweite Manifest des Surrealismus“ (1930) stammt ebenfalls von Breton und hat deutliche Züge ins Unheimliche, was sich vor allem in der Kunst niederschlägt, indem die Obsession und der pure Schrecken thematisiert werden. Manchmal in Verbindung mit Witz oder Poesie, zum Beispiel durch groteske Darstellungen von Puppen und Szenen von Gewalt. Was Breton mit seinem Manifest des Surrealismus erreichen wollte, war eine Absage an Denksysteme, die von der Vernunft dominiert werden. Doch durch den zweiten Weltkrieg blieb der Surrealismus entgegen der Bemühungen Bretons weitestgehend zerschlagen und politisch wirkungslos. Die Irritationen und die Schockmomente, die der Surrealismus evozieren sollte, hatten ihre Kraft durch den grausamen Krieg verloren. Speziell in der deutschen Literatur setzte sich der Surrealismus nur sporadisch durch. Die 68er Studentenbewegung widmete sich ihm teilweise, ansonsten ist er vor allem in der Lyrik zu finden. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Surrealismus gab es hierzulande erstmals im Jahr 1950, als Dieter Wyss seine Studie „Der Surrealismus. Eine Einführung und Deutung surrealistischer Literatur und Malerei“ fertigstellte. Weitergehende Studien folgten seit den 70er Jahren.